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Schnappatmung wegen Gerhard Schröder Montag Morgen

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Gerhard Schröder im Jahr 2016. Bild: LennBr, CC BY-SA 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0, via Wikimedia Commons

I don’t do mea culpa,” Mr. Schröder said, sitting in his sprawling light- and art-filled office in the center of his home city, Hanover, in northwestern Germany. “It’s not my thing.”

Gerhard Schröder, zitiert nach Katrin Bennhold. In New York Times, Online-Ausgabe, 23. April 2022

Zum Morgenkaffee sollte uns wegen dem Altkanzler, der neuerdings so nicht mehr genannt werden soll, mal wieder das Nutella-Brötchen aus dem Gesicht fallen – jedenfalls wenn es nach NDR-Info Radio und anderer Anstalten gegangen wäre. Putin sei kein Kriegsverbrecher, soll Gerhard Schröder in einem Interview mit der New York Times gesagt haben – und dass er im Westen keine Freunde mehr hätte, nur noch im Osten, meldete der zuständige Korrespondent dann noch. Das erste indirekte Zitat verschwand schon mal im Laufe des Tages, weil es so im Interview nicht stand. Das mit den hinfort gegangenen Freunden aus Hannover und Umgebung hielt sich wacker bis in die Abendstunden – obwohl das nicht aus Schröders Mund kam, sondern interpretierend aus der Feder der ihn befragenden Journalistin.

Was war passiert: Am Samstag war ein seitenlanger Artikel in der renommierten New York Times in deren Online-Ausgabe erschienen – so angeteasert – Titel:

The Former Chancellor Who Became Putin’s Man in Germany

Gerhard Schröder, who is paid almost $1 million a year by Russian-controlled energy companies, has become a pariah. But he is also a symbol of Germany’s Russia policy.

Quelle: https://www.nytimes.com/2022/04/23/world/europe/schroder-germany-russia-gas-ukraine-war-energy.html

By Katrin Bennhold

New York Times Online-Ausgabe: April 23, 2022

Gerhard Schröder ein „Pariah“ – ein Ausgestoßener also… Aber da sind noch andere…

Die deutsche Medienmaschinerie kam zwei Tage später in Gang. Am Sonntag waren alle verfügbaren journalistischen Kräfte in Frankreich oder zu Hause. Am Montag hatte man in einigen Redaktionen noch verquollene Augen vom Vortag und keine Zeit, die Quellen genauer zu studieren. Die SPD reagierte aber dennoch sofort und legte dem Bundeskanzler a.d. den Parteiaustritt oder wenigstens das Ruhen seiner Mitgliedschaft nahe. Möge er sich doch bitte selber abräumen. Hat er ja bereits sowieso schon. Also Ruhe jetzt! Es ist Krieg und wir müssen uns um die Schwere der Waffen kümmern, die wir nicht übrig haben, aber dennoch an die Ukraine irgendwie liefern müssen, damit da auch da schnell Ruhe ist. Da verliert auch so mancher seine pazifistische Gesinnung oder vergisst, dass das Leben dank deutsch-russischer „Freundschaft“ in republikweiter Einigkeit doch eben noch so herrlich bequem war.

Nachdem ich selber mit Hilfe eines ausgiebigen Spaziergangs mit Hund die Fassung über so viel medialem Trommelfeuer am Morgen wiedererlangt hatte, kam ich auf die Idee, den eben genannten Artikel doch mal eben schnell selber zu lesen. Zwar bin ich der englischen Sprache durchaus mächtig, was das Erfassen des von US-amerikanischem Polit-Sprech durchsetzten NYT-Artikels aber trotzdem nicht einfach macht, beherrsche ich doch lediglich VW-Denglish. In diesen erhabenen Kreisen unterhält man sich technisch nüchtern und nicht nach der Art des politischen Feuilletons. Mit Hilfe einschlägiger Online-Übersetzer bekam ich dann aber auch heraus, was die veröffentlichte Meinung so in Rage gebracht hatte.

Hier nun also einige Auszüge aus dem Artikel der New York Times. Die fett formatierten Textpassagen sollen der Einordnung dienen und den Kontext der nicht übersetzten Passagen des ellenlangen Textes beschreiben.

Auszüge…

… zusammengefasst

Der Artikel beleuchtet die aktuelle Kontroverse um den ehemaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder und beschreibt ausführlich sein Wirken um die deutsch-russischen Handelsbeziehungen mit Rückschau auf die Entspannungspolitik Willy Brandts und der Fortsetzung des 2015 ausgehandelten Deals zu Nordstream 2 sowie die Fortsetzung durch Angela Merkel. Problematisiert wird auch das damalige Wirken von Steinmeyer und Gabriel und deren aktuelle Rolle in der derzeitigen Diskussion.

Herausgehoben wird im Artikel Schröders arrogant wirkendes Argumentieren pro Putin ebenso wie die Verstrickung seiner Nachfolgerin Angela Merkel, konservativer Kräfte und der Industrielobby auf der anderen Seite.

mein Erkenntnisinteresse

Ist das derzeitige Schröder-Bashing wirklich gerechtfertigt? Was für Argumente zu der Verteidigung seiner Lesart der sozialdemokratischen Entspannungspolitik lassen sich finden? Oder ist alles Schrott, was der Mann uns erzählt?

im Einzelnen…

Erst einmal zur Stimmungslage vor ein paar Tagen in Hannover:

In den Interviews sprach Herr Schröder, jetzt 78, oft auf prahlerische Weise, machte Witze, argumentierte aber im Wesentlichen, dass er nun zwar reich sei, aber ebenfalls auch sein Land. Wenn es um russisches Gas gehe, seien alle an Bord, betonte er und verspottete seine Kritiker über reichlich Weißwein.

Der Wein war bestimmt lecker, das Ambiente angenehm. Es gibt also miesere Arbeitsumgebungen.

Hier zunächst die erste Breitseite:

„Sie alle haben in den letzten 30 Jahren mitgemacht“, sagte er. „Aber plötzlich wissen es alle besser.“

Rrrrrumms! Das saß – und noch schlimmer: Stimmt.

Dennoch kommt die NYT-Redakteurin nicht umhin, auf die Gesamtgemengelage hinzuweisen:

Inzwischen ist es schwer, den Eindruck zu vermeiden, dass Herr Schröder dem russischen Führer als Bettvorleger dient, um sein eigenes Interesse daran zu fördern, Deutschland an billiges russisches Gas zu binden.

Aber selbst seine schärfsten Kritiker erkennen an, dass die engen und lukrativen Geschäfte von Herrn Schröder mit Russland auch ein Symbol für den jahrzehntealten Umgang seines Landes mit Russland sind. Von der deutschen Exportindustrie aggressiv gelobt und von den Gewerkschaften angefeuert, haben aufeinanderfolgende Bundeskanzler, darunter Frau Merkel, gemeinsam Deutschlands Abhängigkeit von russischer Energie geschaffen.

„Schröder ist die Spitze des Eisbergs“, sagte Wolfgang Ischinger, ehemaliger Botschafter in den Vereinigten Staaten und altgedienter Diplomat. „Aber unter ihm ist ein ganzer Eisberg.“

Und jetzt kommt die Stelle, die die NDR-Redaktion möglicherweise leicht falsch interpretiert hat. Schröder sagte im Interview:

„Ich denke, dieser Krieg war ein Fehler, und das habe ich immer gesagt“, sagte Schröder. „Was wir jetzt tun müssen, ist, so schnell wie möglich Frieden zu schaffen.“ Ich fragte nach den inzwischen berüchtigten Gräueltaten in Bucha, einem Vorort von Kiew. „Das muss untersucht werden“, sagte Herr Schröder, fügte aber hinzu, dass er nicht glaube, dass diese Befehle von Herrn Putin, sondern von einer untergeordneten Autorität gekommen seien.

Das ist in der Tat an Realitätsverweigerung nicht zu überbieten. Nein, doch: Putin hat ja andere finstere Mächte verantwortlich gemacht. Leider erfahren wir auch nicht, wie so Frieden zu erreichen ist. Aber hier geht es ja um Alphamänner und einer -frau.

Zu den Beweggründen für das Nord Stream Projekt zu Zeiten Schröders als Kanzler:

Die Idee war, die deutsche und europäische Gasversorgung zu einem Zeitpunkt zu sichern, als Streitigkeiten zwischen Russland und der Ukraine über Transitgebühren und Kiews Gasabzug Bedenken hinsichtlich Versorgungsunterbrechungen aufkommen ließen.

Man wusste also schon recht frühzeitig, dass es in der Ukraine Ärger geben könnte – in dem Sinne, dass eine Auseinandersetzung zwischen der nach Europa strebenden Ukraine und der Russischen Föderation den Gasfluss zum Stocken bringen könnte. Als Zyniker könnte man von heute aus betrachtet den damaligen Akteuren vorausschauendes Handeln bescheinigen.

„Die nächste Regierung hat das nahtlos weitergeführt“, erinnerte sich Schröder. „Niemand in der ersten Merkel-Regierung hat ein Wort dagegen gesagt. Niemand!“

Herr Ischinger, der Botschafter von Herrn Schröder in den Vereinigten Staaten war und später die Münchner Sicherheitskonferenz leitete, stimmte zu.

„Sie können Schröder nicht für Nord Stream 1 verantwortlich machen“, sagte Herr Ischinger. „Die meisten deutschen Politiker, ob in der Regierung oder in der Opposition, haben das nicht kritisch hinterfragt. Niemand hat gefragt, ob wir den Grundstein dafür legen, uns in eine ungesunde Abhängigkeit zu begeben.“

Katrin Bennhold hätte gerne auch die Frau im Bunde gefragt, aber:

Frau Merkel lehnte es durch einen Sprecher ab, sich in diesem Artikel zu äußern.

Schade!

Zwischen 2011 und 2014 war es in der Ukraine, von Deutschland aus betrachtet, angenehm ruhig und Gerhard Schröder seit 2005 nicht mehr Kanzler. Dann folgte allerdings die Annexion der Krim, was diesen allerdings nicht daran hinderte Nordstream 2 in trockene Tücher zu bringen. Angela Merkel hatte bereits 2011 verkündet, nach der Katastrophe von Fukushima auf Atomstrom zu verzichten. Kohleförderung war ebenfalls nicht mehr lohnenswert. Gas wurde als Übergangstechnologie ausgerufen, nachdem man jahrzehntelang die Energiewende verpennt hatte, die deutsche Industrie schrie nach Energie. Und jetzt wird es langsam unangenehm:

Seine (Schröders) wichtigsten Verbündeten bei Nord Stream 2 in der Regierung Merkel seien Wirtschaftsminister und Vizekanzler Sigmar Gabriel und Außenminister Frank-Walter Steinmeier gewesen, beide Sozialdemokraten, sagt Christoph Heusgen, bis 2017 Merkels außenpolitischer Chefberater – beide wie der Altkanzler aus seinem Heimatland Niedersachsen.

Pech für Niedersachsen. Alles zweifelhafte Sozis hier. Vielleicht sollte ich nach Hessen… Aber was sagen die anderen Herren von hier und anderswo dazu:

Der Chef von Nord Stream 2 Geschäftsführer Matthias Warnig war früher Stasi-Offizier zur Zeit Putins KGB-Tätigkeit in Deutschland. Steinmeier war Kanzleramtsminister, Gabriel Außenminister. Alle seien damals in das Projekt Nord Stream 2 eingebunden gewesen und lehnen heute Interviews ab. Dazu die NYT:

Herr Steinmeier lehnte ein Interview für diesen Artikel ab. Herr Gabriel schrieb per SMS, er habe sich nur „zwischen 2014 und 2016 mit Vertretern von Russland und Gazprom“ getroffen, um „einen drohenden Lieferstopp Russlands für die Ukraine abzuwenden“.

Moment! Wie war das ein paar Absätze weiter oben? Da ging es auch um Versorgungssicherheit. Aber für wen doch gleich…

Er fügte hinzu: „Sollten Sie meine Besuche und Treffen in Russland in einen anderen Zusammenhang stellen, möchte ich Sie jetzt darüber informieren, dass ich rechtliche Schritte einleiten werde.“

Au wei! Das mache ich auch immer so, wenn mich in meiner Straße einer schief ankuckt – mit Anwalts Liebling wedeln. Nein! Das ist einfach nur „Mist“, um Bernd das Brot zu zitieren.

Worüber man aber keinen Zweifel haben brauche, ist die Zuverlässigkeit Putins als Lieferant. Der stehe zu seinem Wort, so Gerhard Schröder:

„Warum hätten wir misstrauisch sein sollen? Das hat immer funktioniert“, sagte Herr Schröder. „Abhängigkeit bedeutete für uns doppelte Abhängigkeit. Die sogenannte Energiewaffe ist mehrdeutig. Sie brauchen Öl und Gas, um ihr Budget zu decken. Und wir brauchen Öl und Gas, um zu heizen und die Wirtschaft am Laufen zu halten.“

Da ist es, das Kalkül, das Putin so siegessicher macht. Er nämlich sagt:

„Lasst die deutschen Bürger ihre Geldbörsen öffnen, einen Blick hineinwerfen und sich fragen, ob sie bereit sind, das Drei- bis Fünffache für Strom, Gas und Heizung zu zahlen“, fügte Putin hinzu. „Wenn nicht, sollten sie Herrn Schröder danken, denn das ist seine Leistung, ein Ergebnis seiner Arbeit.“

Gerhard Schröder wird dafür in den russischen Staatsmedien gefeiert. Andererseits, kommentiert die New York Times:

Aber für die Kritiker von Herrn Putin ist Herr Schröder der Inbegriff einer feigen Klasse westlicher Politiker, die Herrn Putin durch die Finanzierung und Legitimierung des Kremls befähigen.

Kommentar zum Kommentar

Richtig ist, dass sich Gerhard Schröder sich hat bereitwillig einkaufen lassen und jetzt das deutsche Gesicht Putins ist. Wahr ist und bleibt aber auch, dass die Nachfolgeregierungen allesamt bis 2021 an Nordstream 2 festgehalten haben, nicht zuletzt auf Druck der deutschen Industrie. Wir hängen am Tropf von Autokraten und Diktatoren. Alle haben mitgemacht und nun soll einer an allem Schuld sein? Sorry, aber das ist zu billig. Gerhard Schröder hat diesen Krieg nicht angefangen! Schon gar nicht hat er im Interview den Krieg in irgend einer Form gebilligt. Noch abstruser wird es, wenn man sozialdemokratische Entspannungspolitik der 1970er Jahre durch die Revisionsmühle jagt. Ohne diese wäre es nicht zur Befriedung großer Teile Europas und Helmut Kohl nicht zum Säulenheiligen für manche geworden – von der Wiedervereinigung mal ganz zu schweigen.

Also los jetzt: Helfen wir zuvorderst den Menschen in der Ukraine, setzen wir alle Kriegsparteien, auch die indirekten wie Europa und die Vereinigten Staaten mit den Ukrainern und Russen an einen Tisch – pudern wir von mir aus den Hintern von Putin, damit der mit seinem Krieg aufhört – und bringen wir endlich die Energiewende zu Stande. Den höchsten Preis für unsere Versäumnisse bezahlen jetzt gerade die Ukrainerinnen und Ukrainer. Hören wir auf, die Diskussion auf schwere Waffen zu beschränken, so sehr diese Forderung von Selenskij auf den ersten Blick auch verständlich sein mag. Schröder wollte nach seiner Kanzlerschaft „Geld machen“. Das mag man verwerflich finden. Aber so mancher sollte im Glashaus… Und was macht eigentlich A….. M…el

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